Aus der Geschichte des Roggens in Schleswig-Holstein

Von Ernst-Otto Pieper

 

Getreide wurde zunächst mit der Hand in Garben gebunden und anschließend zu Hocken zusammengestellt; Foto: E.-O. Pieper

Ältere Menschen erinnern sich noch heute daran, wie der Winterroggen ihnen half, den Frühjahrshunger zu überwinden, der ein deutliches Anzeichen für die durch Vitaminmangel hervorgerufene Früh­jahrsmüdigkeitwar.

Der Historiker Peter Riismøller erzählt, dass erin den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg während desFrühjahrs täglich in die Roggenfelder ging. Er nahm einen dicken Wisch (Halmbündel) des grünen Roggens, trennte den Strohwisch von den Wurzeln und kaute darauf. Er erlebte dies als ein Frühjahrsritual und bemerkte, dass das Leben in ihm zurückkehrte, wenn er an den saftigen, grünen Roggen saugte. Der Ge­schmack ähnelte dem der Ascorbinsäure und die heilende Wirkung war entsprechend.

Der Roggen ist seit den Anfängen unserer Zeitrechnung ein besonders geschätztes Getrei­de. Insbesondere bei wenig ertragreichen Böden konnte der Bauer davon ausgehen, dass er ausreichend Mehl für sein Brot einfuhr, wenn er Roggen säte. In Angeln (Landesteil zwischen Flensburger Förde und Schlei) wurde bereits zur Weihnachtszeit der Ernteertrag des kommenden Jahres prophezeit. Laut H. F. Feilberg füt­terte der Bauer den Hofhund mit drei Häuf­chen Grütze. Das erste enthielt Roggen, das zweite Weizen und das dritte Hafer. Je nachdem, welche Grütze der Hund zuerst fraß, konnte man jetzt voraussagen, welches Getrei­de im darauffolgenden Jahr den höchsten Ertrag bringen würde.

Die sichersten Erträge brachten in den Ge­genden mit mageren Böden Roggen und Buch­weizen – bis die Kartoffel um 1800 angebaut wurde. Es wurde Winter- und Frühjahrsrog­gen gesät, und die Kerne des Roggens wurden bevorzugt zum Brotbacken verwendet. In Schleswig (Land nördlich der Eider) konnte man zwischen dem brau­nen dänischen oder dem weißen holsteini­schen Roggen wählen. Zur Aussaat waren sowohl der westjütische als auch der Probsteiroggen (Probstei = Landschaft in Ostholstein) aus Holstein besonders beliebt.

Der „Mikkelsdag“ (29. September) war in Schleswig der allgemein übliche Tag für das Säen des Winterroggens, während der Frühjahrsroggen gesät wurde, sobald die weiße Bachstelze wieder zurückkehrte. Der Bauer konnte bei der Aussaat auch die Mondphasen berücksichtigen, und er war allemal gut beraten, wenn er folgende überlieferte Redensart über das Gedeihen des Roggens dabei beherzigte: „Sä mich trocken und sä mich tief“.

Während der Roggen wuchs, konnte man die Gültigkeit der weihnachtlichen Weissagung überprüfen. Um eine gute Ernte zu sichern, sollte der Roggen zu Ostern bereits so hoch stehen, dass sich eine Lerche und zu Pfingsten eine Krähe mühelos im Feld verstecken könnte. In Angeln begann die Ernte nach dem Braruper Markt, in anderen Orten sagte man: Ist der Rainfarn rot, gibt der Roggen gutes Brot. Die Roggenernte war in früherer Zeit ein besonderes Ereignis. Der Roggen war Brotgetreide und wurde deshalb fast als heilig angesehen und mit besonderer Ehrfurcht betrachtet. Nachdem der Roggen geerntet war, wurden Kuchen aus frischem Roggenmehl ge­backen und ein Erntefest gefeiert. In Schleswig feierte man ein Roggenfest – „Rowhøtte“ – bei dem Erntekuchen gereicht wurden.

Da der Roggen ausschließlich als Brotgetrei­de verwendet wurde, sorgte man dafür, dass er während des Winters im Backofen trocken ge­halten wurde. In diesen Öfen wurde auch das ergiebige und gute Schrotbrot gebacken; ein Brot, das die Einwohner des Nordens bei Rei­sen in südliche Länder nur schwer entbehren können. Reines Roggenbrot war allerdings zu jener Zeit ein ausgesprochener Luxus. Meist mischte man Gerste oder Erbsenmehl in den Teig. Das tägliche Brot war Roggenbrot, und nur während der Feiertage wurde Weizenbrot gegessen.

Weizenbrot war damals so kostbar, dass die Hausfrau sich bekreuzigte, bevor sie das Brot anschnitt. Fiel ein Stück Brot zu Bo­den, wurde es am Ärmel getrocknet, anschließend geküsst, wobei folgende Entschul­digung ausgesprochen wurde: „Oh Herr ver­zeih, dass ein Stück des heiligen und gesegne­ten Brotes auf den Boden fiel“.