Der älteste Gerichtsbaum Mitteleuropas-Femeiche

Von Ernst-Otto Pieper

 

Femeiche Erle mit Gerichtstisch; Foto: E.-O. Pieper

Erle, ein Ortsteil der Gemeinde Raesfeld im Kreis Borken in Nordrhein-Westfalen liegt im Naturpark Hohe Mark. Bekannt geworden ist die rund 3600 Seele-Gemeinde Erle vor allem durch die am 16. Juni 1871 gepflanzte Pius-Eiche. Sie ist seit dem 1. Juli 1996 ein Naturdenkmal. Die Geschichte dieses Baumes geht bis auf den Kulturkampf zurück, als Reichskanzler Otto von Bismarck und das evangelische Preußen mit Gesetzen gegen die katholische Kirche stritten. Die Erler Katholiken sahen es als ihre Pflicht an, dem damaligen Papst Pius IX. ihre Treue zu zeigen und diese Eiche zu pflanzen.

Weitaus bekannter aber ist die in der Nähe der Pfarrkirche stehende Femeiche. Bevor der christliche Glaube auch Erle erreichte, war die Femeiche dem Germanischen Gott des Krieges und der Weisheit, Odin, geweiht. Der Sage nach saßen seine beiden Raben, Hugin und Munin, in der Krone der Eiche, während Gott Odin unter der Eiche als Richter saß. Deswegen wird die Eiche auch Rabenseiche oder auch Ravenseiche genannt.

Unter der Eiche tagte der Freistuhl, das Erler Femgericht, „den vryen Stoel tum Aßenkampe“, welcher am Ende des Mittelalters seine größte Macht ausübte. Von einem Freistuhl, einer großen Steinplatte aus, hielten die freien Grafen mit sechs Schöffen nach Recht Kaiser Karls des Großen Gericht über Schwerverbrechen wie Mord, Raub, Brandstiftung und Meineid; ein Schuldspruch zog stets den Tod am Strang nach sich.

Das Gericht unterstand bis 1335 dem Stuhlherrn von Heiden und war für das Gebiet der Kirchspiele Erle, Raesfeld, Alt-Schermbeck und die nördlich von Lippe liegenden Dorstener Stadtteile Rhade und Holsterhausen zuständig. Im Jahr 1335 verpfändete der Stuhlherr seine Freigrafschaft dem Grafen von Cleve. 1375 war der Burgherr der Burg Raesfeld Inhaber der Freigrafschaft.

Überliefert ist, dass 1441 der Freigraf Bernt de Duiker unter der Eiche Gert von Diepenbrock und zwei seiner Knechte wegen Schöffenmord verfemte und sie in Abwesenheit für vogelfrei erklärte. Der Bericht über die Gerichtsverhandlung ist der älteste schriftliche Nachweis der Eiche. In einem Schreiben mit der Nummer XXXVIII im Stadtarchiv von Bocholt aus dem Jahre 1441 heißt es: „Bernd die Ducker, Freigraf zu Heiden verfehmt den Gerd Deipenbroik und dessen Knechte, und fordert alle Freischöpfen des H. R. Reichs auf, dieselben an den ersten Baum aufzuhängen, weil sie zwei Freischöpfen ermordet hatten.“ Dort ist auch die Rede vom „Vrygenstole tor Ravenseick“ und dem „Vryenstoel ten Hassenkampe by Erler“.

Eine weitere Gerichtsverhandlung ist von 1543 überliefert. Unter der Eiche wurde bis zum Jahre 1589 Femegericht abgehalten. Im 16. Jahrhundert musste das Femegericht mit dem Erstarken der Landeshoheit des Fürstbischofs von Münster einen Großteil seiner Zuständigkeiten abgeben und wurde Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst. Die Steinplatte des Freistuhls wurde an der Brücke bei Dorsten als Denkmal aufgestellt; 1945 warfen britische Soldaten sie in den Fluss.

Die Hauptkrone der Eiche brach vermutlich im 17. Jahrhundert heraus; im Lauf der Jahrhunderte bildete sich die heutige Krone. Durch das Fehlen des Mittelstammes drang Wasser ein, so dass Pilze das Holz zersetzten und sich die Höhlung bildete. Nachdem der Baum von Pilz befallen war, ließ der Pfarrer de Weldige dem kranken Baum um das Jahre 1750 mit scharfem Gerät zu Leibe rücken und das morsche Mittelstück herauskratzen, um ihm das Überleben zu sichern. Es entstand ein schmaler, mannshoher Eingang. In der Pfarrchronik von Erle steht: „Um 1750 war die Höhlung noch unbedeutend; wir hören um diese Zeit, dass es dem kleinen Sohne des benachbarten Zellers Tellmann große Mühe kostete hineinzukriechen, um die Eier herauszuholen, die des Pastors Enten dort zu legen pflegten. Pastor de Weldige soll dann den Baum haben aushöhlen und einen Eingang zu demselben haben machen lassen.“

Am 26. September 1819 ließ der preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. bei einem Manöver 36 Infanteristen im Inneren des Baumes Aufstellung nehmen. Vorher nahmen der Kronprinz und seine Generäle von Haacke und von Thielemann in der Eiche an einem gedeckten Tische ihr Frühstück ein.

Foto: E.-O. Pieper

Am 1. Juni 1832 wurde der Bischof Kaspar Maximilian Droste zu Vischering nach der Firmung unter Gesang zur festlich geschmückten Eiche geleitet und erfrischte sich dort mit einem Glase Wein. Ein weiteres Mal wurde der Bischof am 16. Juli 1842 feierlichst empfangen, nachdem er in der Gemeinde Raesfeld am Tage vorher 150 Kinder gefirmt hatte. Auch soll der Bischof Johann Georg Müller am 11. Juli 1851 bei einer Firmung mit seinem Hofkaplan den Landdechanten von Droste-Senden und neun Geistliche an einem runden Tisch in der Eiche zwei Stunden lang bewirtet haben. Damals fanden auch Festlichkeiten wie Hochzeiten und Firmungen in und unter der Eiche statt

1902 hatte die Eiche 12,5 m Umfang in Mannshöhe. 1989 hatte sie in einem Meter Höhe noch einen Umfang von 12 m.

Das Alter des ehrwürdigen Baumes ist nicht mehr feststellbar, denn ihr Stamm ist seit rund 250 Jahren hohl und besteht nur noch aus Splintholz. Blitzeinschläge, Stürme, Kriege und menschliche Einflüsse haben ihr in den Jahrhunderten arg zugesetzt. Die drei noch verbliebenen Stammteile, die sich in etwa vier Meter Höhe vereinen, werden von Stangen zusammengehalten und umschließen heute einen Hohlraum von beinahe drei Meter im Durchmesser. Ihr Alter wird anhand des Umfangs und der geschichtlichen Überlieferung auf 600 bis 850 Jahre geschätzt (Die 600 Jahre wurden von Bernd Ullrich geschätzt, die 850 vom Deutschen Baumarchiv). Andere Altersangaben liegen zwischen 1000, 1300 und 1500 Jahren. Diese Schätzungen basieren überwiegend auf der geschichtlichen Überlieferung. Böckenhoff schrieb im Jahre 1966: „Da man Freistühle an ausgezeichnete Stellen setzte, sie alsdann nicht mehr verrückte, müßte die Eiche, als man den Stuhl aufstellte, wohl zur Zeit Karls des Großen, schon ein mächtiger Baum gewesen sein. Demnach wäre sie heute etwa 1500 Jahre alt.“Ein Grund für das hohe Alter der Eiche könnte sein, dass sie als erste in der Region ihre Blätter entfaltet. Der Eichenwickler, ein Laubbaumschädling, konnte ihr bisher nichts anhaben, da er sich erst nach dem Austrieb der übrigen Eichen entwickelt. Im Volksmund spricht man aber stets von der 1000-jährigen Femeiche.

Sie gilt als der älteste und bekannteste Gerichtsbaum in Mitteleuropa.

Gleichzeitig ist sie auch die dickste Eiche Deutschlands und nur die einstmals stärkste Eiche der Welt, die Dagobertseiche im hessischen Dagobertshausen, deren letzte Reste um 1900 verschwanden, hatte im Jahre 1840 mit 14,86 Metern, auf einem Meter Höhe gemessen, einen größeren Umfang.

1965 wurde die Eiche aufwendig vom Baumpfleger Michael Maurer saniert. Die Sanierungskosten in Höhe von etwa 20.000 DM übernahm der Kreis Recklinghausen. 1986 und 1987 wurde der Stamm erneut behandelt. Seit April 1994 schützt den Baum eine neue Umzäunung, um Kletterversuche und Beschädigungen der Äste und Zweige zu unterbinden. Bei einem Sturm im Mai 2000 erlitt die Eiche einige Schäden. Die Krone musste zurückgeschnitten werden; den Rest tragen drei neue Stützen. Zur Erinnerung an die Femegerichte unter der Eiche wurde im Sommer 2006 außerhalb des Zaunes eine Skulptur aus Granit aufgestellt, die einen Gerichtstisch mit einem Henkerseil und einem Schwert darstellen soll.