Der Ortolan im 19. Jahrhundert

Von Ernst-Otto Pieper

Heutzutage wird sicherlich niemand daran zweifeln, dass Vogelfreund auch gleichzeitig Vogelschützer sind – sich zumindest bemühen, etwas Positives für die Vogelwelt zu leisten. Noch vor wenigen Jahrzehnten war das in Deutschland nicht unbedingt selbstverständlich und auch heute ist das in vielen Ländern, denken wir nur an den Singvogelfang in südlichen Ländern, absolut nicht selbstverständlich.
Anfang des 20. Jahrhunderts und in den Jahrhunderten davor dachten Vogelliebhaber beim Anblick eines kleinen Vogels zunächst einmal daran, ob sich dieser verspeisen oder, besser noch, für gutes Geld verkaufen ließ. Diesbezüglich sind im „Archiv für vaterländische Interessen oder Preußische Provinzial- Blätter“, Jahrgang 1842, Seite 231 bis 233, in einem Artikel von Max Rosenheyn einige Angaben über den Ortolan, einer Vogelart aus der Familie der Ammern, zu finden. Rosenheyn weist darauf hin, dass Ortolane an der Weichsel häufig vorkommen und das dieser seinen Aufenthalt in niedrigem Gesträuch auf Wiesen, auch in Gärten, wenn diese an Gebüschen grenzen, hat. „Sein Fleisch gehört zu den vorzüglichsten Delikatessen“, schreibt dieser Vogelliebhaber. Und er schreibt weiterhin: „Das scheinen unsre lieben Landsleute nicht zu wissen, denn obgleich der Vogel bei Chulm so gemein ist, wird er gleichwohl fast ganz unberücksichtigt gelassen. Es lohnt aber wohl der Mühe, sich mit dem Ortolanfange bei uns besonders zu befassen. Da der Verbreitungskreis der Ortolane sehr unterbrochen ist und sie in vielen Länderstrichen gar nicht vorkommen, werden sie an vielen Orten recht teuer bezahlt, so dass sie dort nur auf Tafeln der Reichen vorkommen. Man zahlt in großen Städten 10 bis 16 Silbergroschen Fanggeld für einen solchen Vogel, und man hat Fälle, dass sogar das Stück mit einem Dukaten bezahlt wurde.“
Immerhin hatte ein Dukat den Wert von etwa 27 kg Roggen, was für einen etwa sperlingsgroßen Vogel ein gewaltiger Preis war. Logisch, dass das vaterländische Interesse des Herrn Rosenheyn groß war. So gibt er dann auch im Folgenden gleich noch ein Rezept für die Zubereitung des Vogels mit: „Nach den Regeln der Leckermäuler werden sie halb voneinander geschnitten und mit Petersilie und geriebener Semmel auf dem Roste gebraten.“ Und ein Hinweis darauf, dass südlichere Völker im Ortolangeschäft den Preußen auf dem Weltmarkt die Nase voraus haben, fehlt auch nicht: „Auf Cypern werden jährlich viele Tausende gefangen. Nachdem sie gerupft sind, lässt man sie in heißem Wasser aufwallen und verpackt sie dann ohne Kopf und Füße in Essig und Gewürz zwei- bis vierhundert Stück in kleinen Fässchen und versendet sie so als eine sehr gangbare Handelsware in die großen Städte von Europa.“
Es folgt ein Tipp, wie man das Naturprodukt Ortolan noch veredeln kann: „Um ihren Wert zu erhöhen, mästet man sie. Sie gehen in der Gefangenschaft gleich ans Futter. Man gibt ihnen Hirse oder Hafergrütze, wovon sie bei ihrer Trägheit und Fresslust bald fett werden. Auch hartgekochte kleingeriebene Eier werden ihnen gereicht. Früher ließ man sie wohl auch bei einem künstlichen Dämmerlichte Tag und Nacht fressen. Ein solch gemästeter Vogel wird ein wahrer Fettklumpen.“
Zum Schluss gibt Rosenheyn den Rat, es komme auf einen Versuch an, ob der Ortolanfang „von lohnendem Erfolg sich zeige“.

Sitten und Gebräuche haben ihre Geschichte, auch die der Vogelfreunde.