Die ältesten Speere der Menschheit

Von Ernst-Otto Pieper

Jagd und Sammeln waren die wirtschaftliche Grundlage der Menschen in der Altsteinzeit. Diese begann vor rund 2,5 Millionen Jahren im Osten Afrikas und endete in unseren Breiten vor rund 10 000 Jahren mit dem Ausklingen der letzten Eiszeit.

Foto: E.-O. Pieper

 

Steinwerkzeuge aus dieser Zeit sind keine Seltenheit, Holzgeräte dagegen sind wegen ihrer ungünstigen Erhaltungsbedingungen äußerst selten. Zu ihnen gehören in Europa ein etwa 38 cm langes Spitzenbruchstück einer altpaläolithischen Eibenholzlanze von Clacton-on-Sea, Ostengland (1911 geborgen) und die 1948 geborgene, etwa 2,40 m lange Eibenholzlanze von Lehingen, Landkreis Verden, aus dem Eem-Interglazial, mit der vor rund 120 000 Jahren ein Waldelefant erlegt wurde.

 

Seit den frühen 80er Jahren werden im Braukohlentagebau Schöningen bei Helmstedt Grabungen durchgeführt. 1994 wurde hier ein altpaläolithischer Fundplatz entdeckt, auf dem sich zahlreiche Reste von Großsäugern, hauptsächlich Pferd, Steinwerkzeuge sowie mehrere Wurfspeere aus der Zeit der späten Urmenschen erhalten haben. Die Fundstücke ermöglichen völlig neue Einblicke in die Entwicklung und Kultur des frühen Menschen vor etwa 400 000 Jahren.

Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben für diese Zeit ein kühl temperiertes Klima mit Wiesen- und Waldsteppen am Ende einer Warmzeit. Ende 1994 wurde ein an beiden Enden zugespitztes Holzgerät von 78 cm Länge freigelegt – vermutlich handelt es sich hierbei um ein Wurfholz.

Die ältesten Speere der Menschheit Foto: E.-O. Pieper

Seit dem Spätsommer 1995 wurden auf diesem Fundplatz sieben sehr gut erhaltene Holzspeere entdeckt und geborgen. Sie haben Längen von 1,82 bis 2,50 m bei einem maximalen Durchmesser von ca. 3 bis 5 cm. Bis auf eine Ausnahme sind alle Speere aus Fichte hergestellt und ihre Bearbeitung ist von besonderer Qualität. Da der größte Durchmesser und Schwerpunkt der Speere im Vorderteil des Schaftes liegt, ist klar, dass es sich nicht um Stoßlanzen, sondern um Wurfspeere handelt. Damit liegen aus dem Braunkohlentagebau Schöningen die ältesten vollständig erhaltenen Holzspeere der Welt vor (Alter ca. 400.000 Jahre), die zugleich die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Welt sind.

Diese auf einem Jagdlagerplatz zusammen mit zahlreichen Knochen von mindestens 15 Pferden gefundenen Wurfspeere belegen eindeutig, dass der Urmensch ein äußerst geschickter Jäger war. Ausgestattet mit hervorragenden technischen Fertigkeiten in der Holzbearbeitung war er zu dieser frühen Zeit längst befähigt, eine Großwildjagd mit speziellen Waffen vorausschauend zu planen, zu organisieren, zu koordinieren und erfolgreich durchzuführen. Die Speerfunde ermöglichen somit Einblicke in altpaläolithische Arbeits- und Lebensweisen, besonders in Hinblick auf eine effektive Nahrungsbeschaffung sowie der damit verbundenen Arbeitskooperation, und tragen so dazu bei, ein neues Bild vom frühen Menschen seinen geistigen Fähigkeiten und auch seinem sozialen Verhalten zu entwerfen.