Halbmond und Hornrufe

Von Heimo van Elsbergen

 

Der Halbmond als jagdliches Signalinstrument ist mehr als 400 Jahre alt ist. Die ältesten gebogenen Metallhörner, die die Bezeichnung „Halbmond“ verdienen, begegnen uns in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert wird der Halbmond, auch Flügelhorn genannt, das Standardhorn der Jägerei in Europa. Seine Blütezeit erlebte er im 18. Jahrhundert.

Mit der Deutschen Revolution von 1848 kommt es in Folge der Bindung des Jagdrechts an Grund und Boden zu einem Bruch in der Tradition des Jagdhornblasens. Die adlige Jagd auf großen Jagdbezirken, bei denen Jäger, Treiber, Hundeführer und sonstiges Jagdpersonal auf ein weithin hörbares Verständigungsmittel angewiesen waren, wurde von der bäuerlich-bürgerlichen Jagd auf eigener Scholle oder kleinem Revier abgelöst. Bei der Suchjagd, oft als Einzeljagd betrieben, oder bei Stöberjagden mit wenigen Flinten brauchte man kein Signalinstrument. Lautes Rufen oder der Einsatz simpler Hupen genügte den Jägern der Biedermeierzeit.

Das Jagdhornblasen wurde nur noch bei den Jäger- und Schützenregimentern und bei der Forstpartie gepflegt. Zum Einsatz kamen aber nun das moderne gewundene Jägerhorn als Vorläufer des Fürst-Pless-Horns sowie Signalhörner unterschiedlichster Ausführung. Der altmodische Halbmond wurde – weil zu unbequem – fast vollständig aus der grünen Praxis verdrängt.

Heimo van Elsbergen
Jäger blasen eine Jagd an, 1. Hälfte 18. Jahrhundert.

 Er hatte ausgedient und zierte allenfalls noch die Wand des einen oder anderen Jägerhauses. Anders bei den Brackenjägern. Hier blieb der Halbmond weiterhin im Gebrauch. Bei ihnen gab es keinen Bruch in der jagdlichen Tradition. Wer mit Bracken in unübersichtlichem Gelände, auf Heiden, Mooren und Buschwaldungen jagte, brauchte ein Signalhorn, um die Hunde zu lenken und um sich mit seinen Mitjägern zu verständigen. Die Brackenjäger haben also, egal ob als adlige Herrenjäger, als bodenständige Bauernjäger oder als bürgerliche Jagdliebhaber, in ungebrochener Tradition am überkommenen Halbmond festgehalten und diesen gemeinsam mit den 13 bekannt gewordenen Brackenjagdsignalen aus Westfalen und Hannover in das 21. Jahrhundert hinübergerettet.

Damit sind die Brackenjagdsignale – der Brackenjäger spricht viel stimmungsvoller von Hornrufen – mit Sicherheit viel älter als unsere offiziellen Jagdsignale. Bei den offiziellen Deutschen Jagdsignalen handelt es sich – von den Totsignalen einmal abgesehen – ganz überwiegend um abgewandelte Militärsignale des 19. Jahrhunderts. So wie das Fürst-Pless-Horn auf das Signalhorn der preußischen Jägertruppen zurückgeht, griff man bei den Jagdleitsignalen auf den Fundus der Militärsignale zurück. Deshalb wundert es nicht, dass diese Signale, z.B. „Aufbruch zur Jagd“, „Das Ganze“, „Langsam treiben“ oder „Aufhören zu schießen“, kurz und prägnant sind; denn jeder Soldat musste sich die Signale einprägen und merken können. Den militärischen Ursprung verrät auch die Blasweise: Kurze, abgehackte Töne haben Befehlscharakter und unterstreichen das „zackige“ Erscheinungsbild des damaligen Militärs.

Karl-Heinz Wiechert, Hornführer der Markendorfer Brackenjäger.

Ganz anders die Hornrufe der Brackenjäger: Fast alle Signale ahmen das Geläut der Meute nach, nehmen Bezug auf den Verlauf einer Lauten Jagd und werden „gerüdet“, d.h. die Töne werden miteinander verschliffen.

Besonders deutlich wird dies bei dem hannoverschen Brackenjagdsignal „Hase tot“, das noch heute von den Markendorfer Brackenjägern im Kreis Osnabrück geblasen wird. Es ist wohl das schönste Jagdsignal, das für Jagdhörner mit kleinem Tonumfang komponiert worden ist.

Der Brackenjäger „sieht mit den Ohren“. Das Geläut der Hunde verrät ihm, welches Wild die Bracken jagen, wie die Jagd verläuft und wie sie schließlich ausgeht.

Genau eine solche Brackade ahmt das hannoversche Signal „Hase tot“ nach:

Man hört das erste noch stotternde Lautgeben beim Finden der Hasenfährte. Die Bracken saugen sich auf der frischen Fährte fest; dann ihr jubelnder Aufschrei, wenn der Hase sichtig wird. – Die Laute Jagd kommt näher, entfernt sich, kommt wieder zurück – ein Schuss! Und bald darauf das plötzliche Abreißen des Geläuts, wenn die Bracken an das erlegte Wild kommen.

Diese Lautmalerei finden wir auch bei einem wohl allen Jägerinnen und Jägern bekannten Signal, dem offiziellen „Reh tot“. Dieses Signal geht mit ziemlicher Sicherheit auf die Brackenjäger des märkischen Sauerlandes zurück. Sie bliesen dieses Signal, als es noch gang und gäbe war, auch Rehe vor den Bracken zu schießen. Gustav Böcker aus Iserlohn hat es  vor dem Ersten Weltkrieg in Noten setzen lassen und dem „Deutschen Bracken Club (DBC)“ überliefert.

Bei der etwas kürzeren Fassung der märkischen Brackenjäger wird aber nicht das Geläut der Bracken nachgeahmt, sondern die Bewegung des Rehs. Mit den ersten Akkorden sieht man das Reh in grazilen Sprüngen auf den Schützen zukommen; es verhofft, nimmt den Jäger wahr und will sich mit einer hohen Flucht retten; doch da bricht der Schuss – in der Brackenjagdfassung ein Doppelschuss – und setzt dem Leben des Rehleins ein abruptes Ende. Es folgt als Anhang leicht abgewandelt die bekannte Tot-Fanfare „Halali“.

Der Merkvers zu diesem Signal könnte lauten:

„Reh läuft an, Reh läuft an; plötzlich es verhofft – panische Flucht, zwei Schuss! Halali, Halali!“.

Warum fehlt dieses Signal in der Sammlung der veröffentlichten Brackenjagdsignale, und wie fand es Eingang in die Sammlung der Deutschen Jagdsignale? Als das Signal in Noten gesetzt wurde, gab es bereits die vom DBC herausgegebene Sammlung der westfälischen Brackenjagdsignale. Ein Nachtrag ist wohl aufgrund des Ersten Weltkrieges und der schweren Nachkriegszeit unterblieben. Und als man die Jagdsignale während des Nazi-Regimes neu ordnete, waren der Schrotschuss auf Schalenwild und der Abschuss von Rehen vor den Bracken verboten. Ein Brackenjagdsignal „Reh tot“ hatte also seine jagdpraktische Bedeutung verloren.

Nun ist das Signal „Reh tot“ bereits um 1880 in seiner heutigen Form veröffentlicht worden. Daraus könnte man schließen, dass ein musikbegeisterter Brackenjäger des Sauerlandes eine „Anleihe“ gemacht hat, die dann im märkischen Sauerland eine gewisse Verbreitung gefunden hat. Dabei ist aber zu bedenken, dass damals der Abschuss von Rehen vor den Bracken weit verbreitet war, so dass es sich doch um ein altes Brackenjagdsignal handeln kann. Dafür spricht auch, dass die hannoverschen Brackenjagdsignale neben dem „Hase tot“ auch ein „Reh tot“ kennen.

Heimo van Elsbergen
oben: Brackenjagdsignal: „Rehtod“, unten: DJV-Signal „Reh tot“

Im Übrigen ist das „Reh tot“ der märkischen Brackenjäger kürzer und „schnörkelloser“. Es gibt exakt die oben beschriebene Jagdszene wieder, während die offizielle Version feierlicher wirkt und damit mehr die Freude des Schützen über den jagdlichen Erfolg auszudrücken scheint. Dies kommt auch in dem Merkvers von Walter Frevert zum Ausdruck: „Bock ist tot, Bock ist tot! Einen Bock, den schiess ich gern, sechs Enden trägt sein Gehörn. Halali! Halali!“ Das Signal hat also einen Wandel erfahren. Von der objektiven Schilderung einer Rehjagd hin zur subjektiven Stimmungsäußerung des erfolgreichen Jägers. Das alles spricht dafür, dass die Version der märkischen Brackenjäger die ursprünglichere ist. Außerdem ist der Zeitpunkt, wann und von wem ein Signal erstmals in Noten gesetzt worden ist, noch kein Beweis für Urheberschaft und Alter.

Die Wiedereinführung und Erneuerung der Deutschen Jagdsignale verdanken wir dem Fürsten Hans-Heinrich XI. von Pless in Schlesien. Unterstützt wurde er hierbei von dem musikbegabten Buchhändler Rosner. Nach Wildmeister W. Bezzel soll Rosner die Noten für die Totsignale entworfen haben, und wenn sie den Vorstellungen des Fürsten nicht entsprachen, soll dieser sie entsprechend abgeändert haben. Dabei sind sicherlich nicht alle Totsignale neu komponiert worden. Sofern passend erscheinende Signale bekannt waren, dürften diese übernommen und ggfs. überarbeitet worden sein. 1878 gab Rosner ein kleines Büchlein für Jagdsignale heraus, das bereits alle für das Wild heute noch gebräuchlichen Signale enthielt.

Das märkische Sauerland und Schlesien gehörten damals zu Preußen; die Grafschaft Mark bereits seit 1614, Schlesien seit 1763. Einen Transfer von lokalen oder regionalen Jagdsignalen hat es sicherlich über die preußische Forstverwaltung und die Jäger- und Schützenregimenter gegeben, die sich bevorzugt aus Forstanwärtern, Berufsjägern und Jagdliebhabern rekrutierten. So ist es durchaus denkbar, dass ein Forstmann oder Jäger, aus der Provinz Westfalen nach dem Osten versetzt, die ihm geläufigen Signale – in diesem Fall das „Reh tot“ der märkischen Brackenjäger – in seinem neuen Wirkungskreis bekannt gemacht hat. Damals war es in Preußen üblich, Beamte fern von ihrer Heimat einzusetzen, um Kumpaneien der Staatsdiener mit ihren Landsleuten auszuschließen.

Heimo van Elsbergen
Halbmondbläserkorps um 1955

Wer hat nun diese wunderschönen Signale komponiert?

Wir werden es nie ergründen; denn all diese Hornrufe sind im Laufe von Jahrhunderten entstanden, wurden von Generation zu Generation mündlich überliefert und sind nach dem persönlichen Geschmack einzelner Bläser verändert worden. Erst durch die Aufzeichnung und Veröffentlichung der Noten ist eine „Versteinerung“ der Signale erfolgt. Doch auch diese ist nicht vollständig; denn die Markendorfer Hornführer blasen die hannoverschen Hornrufe schon wieder etwas anders, als sie uns Karl Depker in den 30‘er Jahren des letzten Jahrhunderts überliefert hat. Hier haben wir es mit einer wirklich lebendigen Tradition zu tun.

Doch eines wissen wir ganz genau: Die jeweiligen Komponisten müssen selbst begeisterte Brackenjäger gewesen sein. Denn zu einer solch realistischen wie klangvollen Lautmalerei ist nur fähig, wer nicht nur hoch musikalisch ist, sondern auch die Brackenjagd mit all ihren Reizen persönlich erlebt hat. Wir können daher unterstellen, dass unsere Brackenjagdsignale ursprünglicher sind und tiefere jagdliche Wurzeln haben als die heute gebräuchlichen Deutschen Jagdsignale.

Heute erklingen die hannoverschen Hornrufe noch regelmäßig auf den Brackenjagden der Markendorfer Brackenjäger. Im Sauerland hörte man bis vor wenigen Jahren noch die westfälischen Hornrufe „Aufbruch zur Jagd“ sowie die Rufe „Hunde los“ und „Hunde aufkoppeln“ jeweils in Verbindung mit dem An- und Abblasen der großen Treiben. Sie wurden auf den Halbmonden geblasen. Es waren Mitglieder des Halbmond-Bläserkorps des DBC und einige besonders passionierte Brackenjäger, die diese Tradition aufrecht hielten. Leider sind die Brackenjagden auf Hase und Fuchs im Sauerland fast gänzlich zum Erliegen gekommen, so dass auch die alten Hornrufe ihre praktische Bedeutung fast verloren haben. Umso mehr haben sie einen festen Platz im Repertoire des Halbmond-Bläserkorps des DBC verdient.