Mutterkorn

Von Ernst-Otto Pieper

Mutterkorn; Foto: E.-O. Pieper

Aus reifenden Roggenähren sieht man hin und wieder bis 3 cm lange, hornförmige, harte, schwarz-braune Körner ragen. Es ist ein auf Gräsern, insbesondere Roggen parasitierender Schlauchpilz.

Diese schwarzen Körner sind Dauermycelien des Mutterkornpilzes Claviceps purpurea. Bei der Getreideernte fallen meist einige von ihnen zur Erde, wo sie zur Zeit der Roggenblüte mehrere gestielte, blassrote Fruchtkörper treiben. Im vergrößerten Längsschnitt erkennt man zahlreiche becherförmige Vertiefungen und in diesen ein Bündel Sporenschläuche. Jeder Schlauch enthält acht fadenförmige Sporen: Frühjahrs- oder Schlauchsporen (Endosporen). Nach dem Freiwerden gelangen manche durch den Wind auf Fruchtknoten blühenden Getreides oder sonstiger Gräser und wachsen in diesen auf Kosten des Kornes zu Pilzlagern heran. Die befallenen Blüten werden auffallenderweise von Bienen besucht. Das Mycel schnürt nämlich eine große Zahl winziger Sommersporen (Exosporen) ab. Diese fließen in einem ausgeschiedenen Flüssigkeitstropfen („Honigtau“) zusammen. Insekten, die diesen Saft saugen, übertragen solche Sporen auf andere Ähren. Da die Sporen dort sofort keimen, verbreitet sich der Pilz sehr rasch. Sind die Nährstoffe des Korns verbraucht, so legen sich die Pilzfäden fest aufeinander und verflechten sich zu dem harten Mutterkorn. Mit diesem Dauermycel übersteht der Pilz den Winter und erzeugt im Frühjahr wieder Schlauchsporen. Der Mutterkornpilz bildet also zweierlei Sporen: freie Sommersporen (Exosporen) und Schlauch- oder Frühjahrssporen (Endosporen).

Der Pilz tritt vermehrt in feuchten Jahren auf. Durch den Einsatz von Fungiziden ist die Verbreitung des Mutterkorns stark zurück gegangen.

Mit Mutterkorn verunreinigtes Getreide führte im Mittelalter zu epidemisch auftretenden Vergiftungen (Kriebelkrankheit, Krampfseuche, Konvulsischer Ergotismus). Durch auftretende Krämpfe verblieben die Gliedmaßen oft in abnormer Stellung. Bei einer anderen Form, die insbesondere in Frankreich auftrat (Sankt-Antonius-Feuer, Brandseuche, Gangränöser Ergotismus), wurden die peripheren Blutgefäße geschädigt und die betroffenen, blau-schwarz mumifizierten Körperteile starben ab. In dem Gemälde »Der Kampf zwischen Karneval und Fasten« von Pieter Bruegel dem Älteren (Kunsthistorisches Museum Wien) sind in einer Marktplatzszene auch an Ergotismus erkrankte Personen dargestellt.
Heutzutage finden die Alkaloide des Mutterkorns in der Medizin Verwendung. Die Nützlichkeit des Einsatzes von Ergometrin als wehenförderndes Mittel steht dabei außer Frage; die Verwendung von Ergotamin als Migränemittel hingegen, ist sehr umstritten und entspricht nicht mehr dem aktuellen medizinischen Kenntnisstand. Das Rauschmittel Lysergsäurediethylamid (LSD)  wurde erstmals von Albert Hofmann aus Mutterkornalkaloiden synthetisiert.