Von Ernst-Otto Pieper
Nach den Vogelwarten Rossitten (seit 1903) und Helgoland (seit 1910) erhielt im August 1936 die damalige Ornithologische Abteilung der Biologischen Forschungsanstalt Hiddensee per Erlass des Reichsforstmeisters Göring den Status einer Vogelwarte und war somit die dritte derartige Forschungseinrichtung in Deutschland.
Bereits aus dem Jahr 1852 stammen von H. SCHILLING die ersten ausführlichen Nachrichten über den Vogelreichtum der Insel Hiddensee. Es folgten in den nächsten Jahrzehnten zahlreiche weitere Berichte anderer Autoren. Um 1910 waren auf Hiddensee zeitweise gleich drei Vogelschutzvereine, die sich um den Vogelschutz bemühten, ab 1911 sogar in behördlichem Auftrag. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff „Vogelwarte Hiddensee-Süd“, der allerdings lediglich ein Vogelschutzgebiet im Süden der Insel bezeichnete, nicht aber eine feste vogelkundliche Einrichtung.
Ende der 1920er Jahre verfolgte der Professor für Pflanzenökologie und Direktor des Botanischen Instituts der Universität Greifswald ERICH LEICK (1882 bis 1956) sehr energisch den Plan, auf Hiddensee eine Biologische Forschungsanstalt einzurichten. Diese wurde schließlich im Jahr 1930 gegründet. 1935 waren die finanziellen Voraussetzungen für eine feste Anstellung RICHARD STADIES gegeben, er wurde Leiter und einziger Mitarbeiter der daraufhin gebildeten „Ornithologischen Abteilung der Biologischen Forschungsanstalt Hiddensee“. Bis dahin gab es zwar institutionelle Vorstufen, aber keine eigentliche, d.h. den bereits bestehenden Vogelwarten Helgoland und Rossitten vergleichbare Vogelwarte auf Hiddensee. Nach anfänglichen „Querelen“ und Widerständen der Vogelwarten Rossitten und Helgoland erging am 14. August 1936 der Erlass des Reichsforstmeisters über die institutionelle Neuordnung von Vogelforschung und staatlichem Vogelschutz in Deutschland. Dieser Erlass gilt als offizielles Gründungsdokument der Vogelwarte Hiddensee.
STADIES, nun Leiter der Einrichtung, hatte stets mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen und als er und seine Mitarbeiten mit Kriegsbeginn zum Militärdienst einberufen wurden, ruhten sämtliche Tätigkeiten in der Vogelwarte. Zu einer Wiederaufnahme durch STADIES kam es nicht mehr.
Drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die verwaiste Stelle des Leiters der Vogelwarte Hiddensee mit Dr. HANS SCHILDMACHER (1907 bis 1976) neu besetzt. Auch SCHILDMACHER hatte einen hartnäckigen Kampf um Personal, Arbeitsräume und Geräte zu führen. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aber aus und so konnte die Vogelwarte in das „neu gepachtete Haus am Meer in Kloster“ einziehen und der Personalbestand um zwei Assistenten- und drei technische Stellen erweitert werden. Es folgten Anschaffungen von Gerätschaften. Eine erste behördliche Regelung zur Vogelberingung in der DDR wurde 1956 mit der „Anordnung über die wissenschaftliche Vogelberingung“ getroffen, nach der die zentrale Leitung des Beringungswesens im Lande nun amtlich bei der Vogelwarte Hiddensee lag. Es wurden Radolfzell-Ringe (ehemals Rossitten) verwendet. Ab 1964 wurden eigene Ringe mit der Aufschrift „Vogelwarte Hiddensee“ benutzt. Eine nicht ganz einfache Aufgabe war es nun, die zu jener Zeit etwa 400 aktiven Beringer in der DDR, die jährlich rund 40.000 Vögel beringten, nun mit neuen Ringen zu versorgen.
Mit der im März 1964 herausgegebenen „Richtlinie über das wissenschaftliche Beringungswesen“
gab es erstmals in Deutschland eine rechtlich verbindliche Anforderung an die fachliche Qualifikation von ehrenamtlichen Vogelberingern, welche in Ausbildungskursen nachzuweisen und in einem Zeugnis zu dokumentieren war.
Nach der Emeritierung (Entpflichtung) SCHILDMACHERS im Jahre 1972 übernahm der bereits als Wildbiologe wie auch als Ornithologe ausgewiesene AXEL SIEFKE (geb. 1935) die Stelle des Leiters der Vogelwarte Hiddensee. Er sah in der Beschreibung und der Klärung der Ursachen von popularen Phänomenen in der Vogelwelt die zukunftsträchtige Forschungsrichtung der Vogelwarte mit einem natürlichen Anwendungsfeld im Arten- und Biotopschutz, aber auch in der Nutzung und in „gezielten regulatorischen Eingriffen des Menschen in die Entwicklung wildlebender Tierpopulationen“ (u.a. SIEFKE 1974, 1981). Bereits Mitte der 1970er Jahre überstiegen die jährlichen Beringungszahlen (1976: knapp 150.000 beringte Vögel!) deutlich die manuellen Datenbearbeitungskapazitäten der Vogelwarte, eine neue, effektivere Technik der Datenbehandlung musste her. Ab 1977 wurden sämtliche Beringungsdaten eines jeden Jahres wie auch der Wiederfunde, im EDV-Rechenzentrum der Greifswalder Universität rechnergestützt erfasst und elektronisch archiviert.
1981 erschien erstmals die Zeitschrift „Berichte aus der Vogelwarte Hiddensee“.
Nach ersten halboffiziellen Kontakten zu EURING, der 1963 gegründeten Dachorganisation westeuropäischer nationaler Beringungszentralen, tagten auf Einladung der Vogelwarte Hiddensee im Mai 1987 die 13. Konferenz der Beringungszentralen der sozialistischen Länder und die 8. Generalversammlung von EURING gemeinsam in Greifswald. Dies war eine Vorwegnahme der, damals allerdings so nicht geahnten, organisatorischen Zusammenführung aller Beringungszentralen Europas wenige Jahre später.
Die Vogelwarte startete noch vor 1989 auch Projekte außerhalb Deutschlands und beringte mit dem Hiddensee-Ring der Beringungszentrale Hiddensee auch Vögel auf der antarktischen Halbinsel, in der Mongolei und auf hoher See.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands war nun die Umstellung des Hiddensee-EDV-Projektes vom Großrechnerbetrieb auf Personal Computer, die noch mit Fördermitteln des letzten Umweltministeriums der DDR beschafft worden waren, wichtigste Aufgabe.
Ende des Jahres 1990 standen großzügige Arbeitsräume im neuerbauten Domizil des ILN Greifswald in Neuenkirchen zur Verfügung.
Für das in der DDR gewachsene Hiddensee-Beringungswesen ergaben sich aus der neuen, bundesrepublikanischen Ordnung zahlreiche rechtliche, technische und organisatorische Probleme, die gemeinsam mit den knapp 300 Beringern in den neu entstandenen Bundesländern zu bewältigen waren.
Am 1. Juli 1993 trat Dr. ANDREAS HELBIG (1957 bis 2005), zuletzt an der Universität Heidelberg tätig, als neuer Leiter der Vogelwarte Hiddensee sein Amt an. HELBIG erhielt 2003 eine außerplanmäßige Professur an der Universität Greifswald. Mit ihm hat die Vogelwarte Hiddensee gewiss einen Ausnahmewissenschaftler zum Leiter gehabt. Sein unerwarteter Tod im Oktober 2005, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, war ein großer Verlust für die deutsche und internationale Ornithologie.
Die Vogelwarte Hiddensee gehört heute zur Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und wird vom Institut für Zoologie der Universität betrieben. Im Auftrag der Beringungszentrale Hiddensee beringt die Station jährlich mehrere tausend Vögel.
Geleitet wird die Station von Dr. ANGELA SCHMITZ-ORNÉS und PD Dr. MARTIN HAASE.