Was sind eigentlich „Bezoare“?

Von Ernst-Otto Pieper

 

Das Wort Bezoar (nicht: Hirschbezoar) kommt ursprünglich aus dem persischen Bâd-i-zohr (arabisch bazahr), was so viel wie Gift, Wind und Gegengift bedeutet.

Ein Bezoar ist ein Ball aus verschluckten unverdaulichen Materialien wie Haare, Knochen usw., der als Trichobezoar im Magen von Greifvögeln, Eulen, Eisvögeln und vielen anderen Vogelarten aber auch Säugetierarten und selbst beim Menschen (Trichophagie) gebildet wird. Diese unverdaulichen Reste werden bei Vögeln nach einiger Zeit hochgewürgt und wieder ausgespuckt. Die so ausgeschiedenen Nahrungsreste werden als Gewölle bezeichnet. Die Gewölleinhalte lassen oft die Zuordnung zu deren Erzeuger zu (z.B. Eulen-Gewölle mit Knochen, Gewölle der Greife ohne Knochen, Gewölle des Eisvogels mit Gräten und Schuppen).

In den Verdauungsorganen von Wiederkäuern findet man besonders häufig Bezoarsteine. Sie werden so genannt, weil sie infolge langen Aufenthaltes im Verdauungstrakt von einer harten Kruste überzogen sind. Die Steine haben meist eine runde Form, sind aber verschieden in Farbe und Zusammensetzung.

Die „deutschen“ Bezoarsteine, auch „Gemskugeln“ genannt, bestehen aus Haaren und Pflanzenresten und finden sich bei Gamswild, Steinwild, Hirsch- und Rinderartigen und auch bei Pferden. Die sehr teuren „orientalischen“ Bezoarsteine (Bezoar orientalis) stammen von der persischen Bezoarziege, die etwas preiswerteren „Bezoar occidentale“ von der Kamelziege; ihr Hauptbestandteil ist Lithofellinsäure, es sind also Gallensteine.

Der Gebrauch dieser „heilenden Steine“ kam erst im 12. Jahrhundert durch die arabische Medizin nach Europa.

Alle Bezoarsteine galten früher als unfehlbare Gegengifte: Mit Wein eingenommen, hoffte man die Gicht bekämpfen zu können; man gab sie Frauen bei der Niederkunft; sie wurden bei Epilepsie angewandt und auch bei Bauchschmerzen; sie sollten sowohl harn- als auch schweißtreibend wirken und auf diese Weise Gifte aus dem Körper leiten; sie sollten die Wassersucht vertreiben und den verdorbenen Magen kurieren; vor allem aber waren sie nützlich beim Biss giftiger Tiere und bei Stichen gefährlicher Insekten oder auch bei Vergiftungen durch Pflanzen und Pilze, sie wurden für ein Allheilmittel gehalten.

Zu den zugeschriebenen magischen Kräften zählte auch die Beschwörung von Regen, Schnee, Nebel oder Wind an jedem beliebigen Ort. Zu dem Zweck wurden zwei Bezoarsteine in einen Wasserbehälter getaucht und anschließend unter Beschwörungen durch ständiges Aneinanderreiben getrocknet. Zwecks Erzeugung von Regen- oder Schneestürmen war der Zauber in der Kriegsführung der Steppenvölker Asiens beliebt. Tolui Khan (1191 – 1232) Sohn der Börte, der Hauptfrau des Dschingis Khan, ließ den Zauber ausführen, als er die Schlacht um den Berggipfel San-feng zu verlieren drohte. Auch bei Harry Potter wird er erwähnt: „Wo würdest Du suchen wenn Du mir einen Bezoar beschaffen müsstest?“ In Band 6 wird er auch als Gegenmittel für eine Vergiftung angewandt.

Wie wichtig Bezoarsteine als Medikament in Apotheken waren, belegt folgender Bericht: „In Salzburg, wo es unter dem Erzbischof Guidobald von Thun (1654 bis 1668) zur Gründung einer Steinwildapotheke als besondere Abteilung der bischöflichen Hofapotheke kam, erging zugleich strengster Befehl an die bischöflichen Jäger zur Ablieferung von Steinwildteilen. Danach mussten alle Herzkreuzchen und Augensterne der Steinböcke, Gemsen und Hirsche eingeliefert werden; dafür ließ der Erzbischof jedem Jäger einen Dukaten und für jede Gemskugel zwei Gulden auszahlen.“

Als Erstbeschreiber für die magischen Kräfte der Bezoarstein gilt der indische Arzt und Verfasser eines bedeutenden Ayurvedischen Werkes, Susruta. Er lebte wahrscheinlich im frühen 6. Jh. V. Chr. und beschrieb etwa 300 Operationen und 121 Operationsinstrumente. Das Buch Susruta Samhita stammt vermutlich aus der Zeit um 350 n. Chr. Und geht auf Susruta zurück.

Insbesondere große Bezoarsteine genossen eine so hohe Beachtung, dass selbst Herrscher und Adelspersonen sie handwerklich besonders geschickten Goldschmieden übergaben, um sie aufs kostbarste verzieren zu lassen.

Angeblich erhielt Karl IX. (1560 – 1574), König von Frankreich, einst einen besonders großen und schönen Bezoarstein als Geschenk. An seine Wirksamkeit als Gegengift wollte der Herrscher allerdings nicht glauben. Er „begnadigte“ einen zum Tode Verurteilten zu einem Versuch: Der Delinquent sollte Gift schlucken und danach die sagenhafte Wirkung des Bozoarsteins testen. Die Testperson verstarb trotz des Wundermittels unter starken Schmerzen.

Der Aberglaube, Bezoarsteine, Schläuche, Schweiß, Milz, Knochenmark sowie das Herzkreuz machen unverwundbar führte bis 1850 fast zur Ausrottung des Steinwildes, obwohl bereits Mitte des 16. Jahrhunderts die Jagd auf Steinwild unter körperliche Strafe gestellt wurde. Das Steinwild überlebte nur, weil VIKTOR EMANUEL, König von Italien, das letzte Steinwild am Gran Paradiso unter Schutz stellte und sich das alleinige Jagdrecht erkaufte.

Künstlich hergestellte Bezoarsteine, so genannte „man made Bezoare“, werden auch heute noch in der traditionellen chinesischen Medizin verwendet.