Wolf und Hund

Von Dr. Ludolf Hoffmann, Klub Tirolerbracke Deutschland e.V.

 

Keine Angst, der folgende Artikel wird nicht eine weitere Stellungnahme zu der derzeit zu beobachtenden zunehmenden Ausbreitung des Wolfes in Deutschland hinzufügen. Nur so viel sei dazu gesagt: bei den Diskussionen zu dem Thema steht in den seltensten Fällen wirklich der Wolf im Mittelpunkt der Betrachtung. Vielmehr geht es um die Auswirkungen, die das Leben mit bzw. neben dem Wolf mit sich bringen. Ganz ähnlich geht es bei den allermeisten Diskussionen um Schalenwild. Oder denken wir an Kormorane. Es geht in allen diesen Diskussionen um Nutzungsansprüche des Menschen.

Und so finden sich unter den bedingungslosen Befürwortern des Rotwildes ähnlich selten Waldbesitzer bzw. Menschen, die darauf angewiesen sind, den Holzertrag zu optimieren, wie es sich bei den Bewunderern des ritterlichen Schwarzwildes in den seltensten Fällen um Landwirte handelt. Die Zunahme der Wölfe wird in ähnlicher Weise in erster Linie von denjenigen Menschen bejubelt oder mit Gleichmut beobachtet, die ihren Lebensunterhalt nicht unbedingt mit Schafzucht verdienen. Für letztere Personengruppe verdüstert sich die Betriebsbilanz oftmals bis zur Unkenntlichkeit. Ich denke nicht, dass man von dieser Interessensgruppe ein uneingeschränktes Verständnis für Wölfe erwarten kann. Zumindest nicht, solange erlittene Schäden nur nach aufwendigem Verfahren oder nur in unzureichender Weise von der öffentlichen Hand getragen werden. Das wäre ja so, als würde der Landwirt mit entstandenem Wildschaden alleine gelassen oder der Waldbesitzer müsste unbegrenzt entstandenen Schaden durch Schalenwild hinnehmen müssen. Auf dem Sektor ist alles vergleichsweise gut und, seien wir mal ehrlich, zum Teil auch mit einem deutlich über das notwendige Maß hinausgehendem Aufwand geregelt.

Ich denke, dieser Aspekt sollte einmal der Ehrlichkeit halber gesagt sein. Aber wie versprochen wollte ich hier vielmehr auf einen anderen Aspekt eingehen.

Die Kurzfassung würde ungefähr so lauten:

Der Hund stammt vom Wolf ab. Das hört sich vielleicht trivial an, ist es aber gar nicht. Und war übrigens auch in der Fachwelt lange umstritten. Diskutiert wurde nämlich durchaus auch zumindest eine Beteiligung des Goldschakals. Und wir sollten bedenken, dass sich der Hund nicht nur mit dem Wolf fruchtbar kreuzen kann, sondern ebenfalls mit zum Beispiel Kojoten. Solche Bastarde kommen besonders in ländlichen Gegenden der USA gar nicht einmal so selten vor. Aber selbst, wenn wir einmal ausblenden, dass auch andere Arten als der Wolf ihren Beitrag zum Hund geleistet haben könnten, ist die Domestikation des Wolfes alles andere als eine Trivialität, sondern kann wohl mit Fug und Recht als ein kultureller Meilenstein der Menschheit bezeichnet werden. Der Schritt der Domestikation einer Art ist jedes Mal ein sich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte erstreckender Quantensprung gewesen. Und eröffnete für das Überleben der Menschheit neue Horizonte. Womit wir ja wieder bei den Nutzungsansprüchen des Menschen sind……

 

Domestikation – was ist das eigentlich?

Man könnte es mit ‚Haustierwerdung‘, also in unserem Fall als ‚Hundwerdung des Wolfes‘ bezeichnen. Eine Zähmung reicht dazu durchaus nicht, sondern ist allenfalls der allererste kleine Schritt in Richtung Domestikation. Ein als Beizvogel abgetragener gezähmter Habicht etwa ist immer noch ein Wildtier und hat meist auch keinerlei Schwierigkeiten, alleine draußen zurechtzukommen, sollte er einmal bei der Jagd abhandenkommen. Zähmung ist Verlust der Scheu vor dem Menschen eines oder mehrerer Einzeltiere. Durch schlechte Behandlung oder etwa ein Ausbleiben der Fütterung ist das schnell wieder umkehrbar.

Bei der Domestikation ist das nicht so einfach möglich. Die hinterlässt Spuren, die sich nicht so einfach verwischen lassen. Und das betrifft sowohl das Äußere als auch die inneren Werte. Dimitri Beljajew, ein russischer Genetiker, wurde in den 1950er Jahren mit dem Problem konfrontiert, dass die in den Pelzfarmen gehaltenen Silberfüchse unwirtschaftlich waren.

Die Ursache der nicht vorhandenen Wirtschaftlichkeit lag allerdings nicht, wie man vermuten könnte, in einer schlechten Fellqualität, sondern einer mangelnden Vermehrungs- bzw. Aufzuchtleistung der Tiere. Die Tiere nahmen schlecht auf, brachten kleine Würfe und kümmerten sich dann auch noch oft unzureichend um ihren Wurf. Zum Pflegepersonal benahmen sich die Füchse in Folge ihrer großen Angst äußerst unkooperativ und unternahmen bei fast jeder Pflegemaßnahme Beißversuche. Kurzum, es waren zwar in Gefangenschaft gehaltene und auch dort schon geborene Tiere, als zahm waren sie aber in keinster Weise zu bezeichnen. Beljajew begann, ein aus nur einem einzigen Zuchtziel bestehendes Zuchtkonzept umzusetzen: Es wurde nur mit den Tieren gezüchtet, die ihren Pflegern gegenüber am wenigsten Aggression an den Tag legten.

Das waren am Anfang natürlich nicht die reinsten Kuschelbären bzw. –füchse, sondern vielleicht diejenigen Exemplare, die z. B. nicht beim Öffnen des Käfigs augenblicklich eine Attacke fuhren. Sondern vielleicht erst dann, wenn man etwa die Hand in den Käfig streckte. In dieser Richtung ging es weiter, und von Generation zu Generation wurden die Tiere zahmer und zahmer. Nach ca. 20 Generationen schließlich waren die Füchse nicht mehr wiederzuerkennen. Sie zeigten vor dem Menschen keinerlei Angst mehr und infolgedessen auch keinerlei Abwehrverhalten in Form von Beißen etc. Im Gegenteil, sie zeigten das für Hundeartige typische Zuneigungslecken, Schwanzwedeln usw. Und die Füchse hatten auch keinerlei Probleme mehr mit der Aufzucht ihrer Jungen. Beljajew hatte erkannt, dass übergroßer Stress infolge Angst vor dem Menschen die Ursache für die Aufzuchtprobleme war.

Hut ab!

An diesem Beispiel sind wesentliche Phänomene der Domestikation zu erkennen. Unabdingbar für das problemlose Miteinander ist eine gewissermaßen genetisch fixierte Zahmheit. Ohne die geht gar nichts. Die Füchse aus dem Beispiel wurden nicht plötzlich besser behandelt und etwa deswegen zahmer. Sie waren es nach einigen Generationen von sich aus. Andere Beispiele gibt es zuhauf. Reden Sie einmal mit einem Imker (auch die Honigbiene ist ein Haustier!). Oder haben Sie beispielsweise einmal ein Zebra als exklusives Pony gesehen? Nicht? Die Ursache ist nicht in der geografischen Lage des Herkunftslandes von Zebras zu suchen. Zebras gelten als nicht reitbar, ihnen fehlt schlicht die Zahmheit eines domestizierten Ponys. Und Beljajew hat sich ja nun mal an den Silberfüchsen ausgetobt….

Bei denen traten neben der problemlosen Züchtbarkeit und der Zahmheit auch äußerliche Veränderungen auf. So zeigten sich häufig helle Flecken im Fell oder überhaupt eine helle Fellfärbung. In der freien Wildbahn außer am Polarkreis sicherlich sehr problematisch und oftmals Todesurteil, finden sich hellere Färbungen oder Abzeichen bei zahlreichen Haustieren. Auch unsere Tiroler sind häufig mit ihnen geziert. Erstaunlich aber wahr: Zahlreiche Silberfüchse aus der zahmen Population hatten Schlappohren. Auch die haben zahlreiche Rassen des Haushundes, wie auch die unsere und sie gelten als klassisches Merkmal der Haustierwerdung bei Hunden. Natürlich ist ein Hund ohne Abzeichen noch lange kein Wolf und ein Deutscher Schäferhund trotz Stehohren ein echter Hund. Und sein Synonym ‚Wolfshund‘ so ziemlich die unzutreffendste Bezeichnung, die man sich denken kann. Die beschriebenen typischen Haustier-Merkmale treten lediglich bei bestimmten Populationen domestizierter Tiere gehäuft auf.

Die Liste weiterer typischer Eigenschaften von Haustieren ist lang, wenn auch wie bei den hellen Abzeichen und Schlappohren im Einzelfall durchaus nicht immer zutreffend. In aller Regel sind domestizierte Tiere kleiner als ihre wilden Ahnen. Auch – ich schreibe es ungern – wird eine geringere Intelligenz angenommen. Zum Trost sei aber zum einen darauf hingewiesen, dass Intelligenz nicht leicht festzustellen ist und wie die anderen Merkmale auch, muss ja nicht in jedem Einzelfall…. Sie verstehen schon.

Wie und warum aber domestiziert der Mensch aber Tiere? Die Antwort liegt auf der Hand: Um Tiere besser – oder überhaupt – nutzen zu können. Das war ja bei der Domestikation im Zeitraffer unserer Beljajew’schen Silberfüchse auch der Fall. Die Domestikation der ältesten Haustiere, Schafe und Ziegen, hat sich mit ziemlicher Sicherheit daraus ergeben, dass bei der Jagd lebendig eingefangene Jungtiere sozusagen als lebende Speisekammer gehalten wurden. Die Kühltruhe dürfte seinerzeit nicht weit verbreitet gewesen sein, Verderb von Lebensmittel und dadurch hervorgerufenen Vergiftungen hingegen schon. Und so war es sicher praktisch und möglicherweise lebensrettend, wenn in Zeiten mangelnder Gnade der Jagdgötter ein zum Verzehr geeignetes Tier zur Verfügung stand.

Gelang gar die Vermehrung dieser Vorratstiere, ging es los mit der Domestikation, indem der Mensch immer diejenigen Tiere zur Weiterzucht behielt, die die von ihm gewünschten Eigenschaften in überdurchschnittlichem Maße aufwiesen. Man kann übrigens trefflich darüber streiten, ob das nun eine Form des Parasitismus ist, weil ja der Mensch sich völlig egoistisch dem Tier gegenüber verhält. Das ist jetzt vielleicht ein wenig philosophisch, aber wenn die Tiere gefüttert, beschützt, vermehrt und dann ein Teil derselben verspeist werden, ist das sicher kein Parasitismus mehr. Der Parasit nimmt sich, was er braucht und kümmert sich nicht weiter um das Wohl seines Wirtes. Tiere, die die Karriere zum Haustier geschafft haben, haben damit auch einen unglaublichen Siegeszug um den ganzen Globus angetreten, ganz egal ob Hund, Huhn, Labormaus oder Pferd.

Wie aber kommt ein Mensch auf die Idee, einen Wolf zu behalten, um ihn in schlechten Zeiten zu verzehren oder gar gleich, beseelt von kühner Vision, den ersten Standard der Tiroler Bracke vor steinzeitlichen Augen, eine Zucht von Wölfen zu starten, um einen großartigen Jagdhelfer zu erschaffen?

Einen Wolf!

Ein großer Fleischfresser, sicher nicht ganz einfach zu handhaben und satt zu bekommen. Also Schafe und Ziegen, ja, das sind Tiere, deren Körpergröße sie recht einfach handhabbar macht. Ihre Futteransprüche waren sicher schon in Urzeiten vergleichsweise leicht zu bedienen und wenn man sie anbindet, kauen sie nicht gleich jeden Strick durch. Aber einen Wolf! Dessen Futter müsste man sich ja buchstäblich vom Mund absparen und man kann kaum davon ausgehen, dass unsere Vorfahren schon immer in dem Überfluss gelebt haben, der uns heute umgibt. Ich für meinen Teil kann mir das wirklich nicht vorstellen.

Es gibt eine andere interessante Hypothese über die Verhundlichung des Wolfes, die ich hingegen bestechend logisch finde. Demnach sind Wölfe dazu übergegangen, zunehmend regelmäßig und schließlich andauernd, die Müllhalden der Steinzeit aufzusuchen. Damals wie heute findet sich dort allerlei Interessantes für einen Hundeartigen. Knochen und sonstige Reste von Beute- oder Haustieren des Menschen. So mag es gekommen sein, dass sich Wölfe dauerhaft in der Nähe des Menschen aufgehalten haben. Damals wie heute wird das nicht immer gänzlich konfliktfrei gewesen sein. Und man kann davon ausgehen, dass der Mensch seinerzeit nur solche Tiere in seiner Nähe toleriert hat, von denen seiner Einschätzung nach keine Gefahr ausging. Es war wohl so etwas wie ein urzeitliches Silberfuchs-Experiment. Natürlich mit schlechterer Eingriffsmöglichkeit und ohne Genetiker. Nur Tiere, die wenig Scheu zeigten, dürften einen nennenswerten Teil ihrer Nahrung von menschlichem Abfall bezogen haben.

Und nur solche, von denen keine Aggression ausging, dürften die Nähe zum Menschen überlebt haben. Im Laufe der Zeit mag sich ein Miteinander entwickelt haben, von dem dann auch der Mensch profitierte. Solange sich die in der Peripherie der menschlichen Siedlungen lebenden Wölfe – oder waren es da schon Hunde? – normal verhielten, drohte keine Gefahr. Falls nicht, war es an der Zeit, auf der Hut zu sein vor den Gefahren jener Zeit.

Der Mensch besaß einen Wächter!

Das eigentlich Wunderbare daran ist, dass im Gegensatz zu anderen Haustieren gleich welcher Art, davon ausgegangen werden kann, dass es nicht der Mensch war, von dem die aus Sicht des Tieres sicherlich in aller Regel unfreiwillige Domestikation ihren Anfang nahm, sondern man kann annehmen, dass es der Wolf war, der sich dem Menschen angeschlossen hat, bis das Leben der Menschen mit dem der Wölfe bzw. Hunde vollkommen zu einem gemeinsamen Weg verschmolzen ist, der für beide Seiten völlig neue Dimensionen eröffnet hat. Dieser Pakt – ich bewache Dich und Du gibst mir Nahrung – hat bis heute Bestand. Aus ihm sind zahlreiche weitere Blüten hervorgegangen. Die des gemeinsamen Jagens, des Beutemachens und des Genossenmachens zum Beispiel, das uns so mit unseren Tiroler Bracken verbindet.

Foto: Laute Jagd

 

Immer wenn vor oder nach der Jagd Horn und Hund gemeinsam die Signale erklingen lassen, muss ich an diesen uralten Vertrag denken. Und ich bin glücklich, ein Teil dieser in der Welt einzigartigen Zweisamkeit zu sein.